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    • Foto: Marie Stadelmann

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    Heimat (für Sieglinde)

    SimultanProjekte 2022
    12.06. – 18.09.2022

    Gelbe Biergartenstühle stehen zweireihig in einem Bogen aufgestellt auf dem grauen Asphalt. In die Sitzflächen sind schwarze Bottiche eingelassen, darin – jetzt, Anfang Juni – kleine Pflanzen, die ihre ersten Triebe und Blätter entwickelt haben. Sanna Reitz zieht Kartoffeln heran. Genügsame, anpassungsfähige Knollen, die auch unter trockenen und kargen Bedingungen gedeihen, so dass die Pflanze mittlerweile fast auf dem gesamten Globus vorkommt. Aus der Ferne noch undeutlich, lassen sich in näherer Betrachtung einzelne, monoton zuredende Stimmen vernehmen, die sich zeitweise mit den Unterhaltungen der grünen Sittiche oder dem Ansager der nahe gelegenen S-Bahn-Haltestelle vermischen. Im Hinhören spitzt sich der Fokus zu, wandert zur gegenüberliegenden Hecke, dem am Boden hüpfenden Amselmännchen oder den Linden, Birken und Eichen aus der Erzählung. Die Geräusche an der Simultanhalle legen sich in die Tonspur der erzählten Landschaften. Auch Pflanzen nehmen Schallwellen wahr, reagieren auf Schädlinge etwa mit körpereigenen Giftstoffen, wenn sie das Frassgeräusch von Insekten hören, oder erzeugen, wenn sie kurz vor dem Verdursten stehen, selbst Geräusche.

    In ihrer Arbeit „Heimat (für Sieglinde)“ greift Sanna Reitz Vorurteile und Aneignungen auf und hinterfragt diese: zum Einen das Bild der Kartoffel, die im Ausland beinahe schon als Synonym für den oder die „Deutsche“ steht – obgleich das Nachtschattengewächs im 17. Jahrhundert erst aus Südamerika einwandern musste. Auf der anderen Seite die völkisch nationalistische Auslegung des Heimatbegriffs und die exklusive, traditionalistische Bewahrung der „deutschen“ Kultur vor interkulturellen Einflüssen. Was ist das denn, die „deutsche“ Kultur?

    Im biologischen Bereich wird der Begriff der Kultur bzw. des Kultivierens für die Abgrenzung von Wildformen einer Pflanzenart verwendet. In diesem Sinne sind die hier wachsenden Kartoffeln – anders als ihre Urahnen aus den Anden, Bolivien, Argentinien oder Peru – Kultur-Kartoffeln.

    Gleichzeitig decollagiert Sanna Reitz auf der Tonspur etwas, was als Inbegriff deutscher Kultur gesehen wird: Klassiker der
    „deutschen“ Literatur. Sie kultiviert die Kartoffeln mit teils idealisierenden, teils abschreckenden Landschaftsbeschreibungen aus einer Zeit, in der „Deutschland“ noch nicht existierte. Die leise einredenden Stimmen zitieren Textpassagen mit den Schilderungen anderer Pflanzen, Vogelarten und der Natur im Allgemeinen. Es wirkt beinahe so, als ob Reitz die Kartoffeln darauf vorbereiten wolle, eines Tages aus den Bottichen auf das umliegende Gelände umzusiedeln. In „Heimat (für Sieglinde)“ geht es damit unausgesprochen auch um die Heimat als schützenden Lebensmittelpunkt – was passiert, wenn dieser sich verlagert oder wegfällt; wie wir eine neue Heimat finden und anderen eine bieten können.

    Anna Schütten

    Sanna Reitz

    Heimat (für Sieglinde)
    Kartoffelpflanzen, Stühle, Sound, Goethe, Eichendorff, Novalis
    2022

    Mit freundlicher Unterstützung von: